Donna Leon und ihren Commissario Brunetti noch einmal besonders vorzustellen, heißt schlicht gesagt: "Eulen nach Athen tragen". Wem dieser alte, geflügelte Begriff nicht mehr ganz so geläufig ist, dem sei die Bedeutung noch einmal kurz zurück ins Gedächtnis gerufen. Der antike griechische Dichter Aristophanes hat in einer satirischen Komödie dieses geflügelte Wort geprägt und es steht für eine ganz überflüssige Tätigkeit. In Bezug auf die Kriminal-Autorin Donna Leon und ihren Protagonisten Guido Brunetti, seines Zeichens Commissario der Polizei Venedigs wäre eine Vorstellung der amerikanischen Schriftstellerin, die seit Jahrzehnten in Venedig lebt und ihrer Krimi-Reihe, tatsächlich "eine überflüssige Tätigkeit", kennt man die Bücher von Donna Leon besonders hierzulande seit vielen, vielen Jahren. Der erste Fall erschien im Jahre 1992 in New York. Der Diogenes Verlag hat die erste deutsche Übersetzung ein Jahr später 1993 herausgebracht. Bei uns verzeichnen die Auflagen jedes neuen Falls absolute Spitzenwerte und die Verfilmungen der Romane erleben selbst bei der Wiederholung der Ausstrahlungen im Fernsehen noch immer Höchstwerte. In ihrem Geburtsland den USA wird die Autorin ebenfalls sehr geschätzt, ebenso in vielen Ländern rund um den Globus, denn "Commissario Brunettis Fälle" werden in 35 Sprachen übersetzt. Die Tatsache, dass Donna Leon sie nicht in italienischer Sprache herausgeben lässt, begründet sie mit der Möglichkeit, so ungestörter in ihrer zweiten Heimat Venedig besser recherchieren zu können.
Nun also zum sechsundzwanzigsten Fall der Bestseller-Autorin:
Einmal wieder ist es glühend heiß im hochsommerlichen Venedig. Die Hitze in den Büroräumen der Questura, wo Commissario Brunetti gerade einen Zeugen zu einem mysteriösen Todesfall einer jungen Frau in der letzten Nacht, gemeinsam mit einem jungen Kollegen vernimmt, ist kaum auszuhalten. Noch weniger erträglich erscheinen den beiden Polizisten die herabwürdigenden Angaben dieses aufgeblasenen Rechtsanwalts, der als Sohn eines der wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt glaubt, absolute Sonderrechte zu besitzen. Bevor der junge Beamte voller Zorn seine Kompetenzen vergisst und den arroganten Wichtigtuer attackieren kann, simuliert Brunetti eine Herzattacke. Auf diese Weise verhindert er Schlimmeres, was dem wütenden Kollegen höchstwahrscheinlich seine Karriere bei der Polizei gerettet hat. Die sofort herbeigerufene Ambulanz sorgt für den Abtransport Brunettis ins nahegelegene Ospedale Santi Giovanni e Paolo, wo er trotz des Eingeständnisses seiner Simulanz eingehend untersucht wird. Die behandelnde Ärztin stellt akute, gesundheitsgefährdende Stress-Symptome fest und ordnet einen sofortigen Erholungsurlaub an.
Paola, Brunettis adelige Ehefrau überredet ihren Guido diese Regeneration in einem alten Anwesen von Verwandten auf der benachbarten Insel Sant Erasmo, unweit von Venedig zu unternehmen. Die Villa, heute wird sie nach dem Tod von Paolas Tante kaum noch benutzt, hat ihrer Familie seit ihrer Jugend an schon als Ferien-Domizil gedient. Ganz allein dort hinzufahren, ist die beste Möglichkeit sich zu erholen. Hier in der Abgeschiedenheit und Ruhe, ohne die Hektik von Büro, täglichem Stress und viel Zuviel Touristen soll er mit der Natur, viel Sport und ohne viel Alkohol zurückfinden zu alter Kraft und neuer Energie. Dies gelingt Brunetti allerdings nur einige wenige Tage. Und nachdem der Verwalter des Familien-Anwesens, ein alter Ruderfreund seines Vaters, wie sich bald herausgestellt hat, bei einer Sturmnacht mit seinem Boot verschwunden ist, drängt es den Commissario außer Dienst doch sofort mit den Ermittlungen zu beginnen. Dienst hin, Dienst her, Brunetti fühlt sich in der Pflicht, zumal sich bei Davide Casati, dem Verwalter und ihm, bei den langen, täglichen gemeinsamen Ruderausflügen nicht nur Sympathie und Achtung entwickelt hat, sie waren auf dem Weg Freunde zu werden.
"Stille Wasser" zeigt erneut, warum auch dieses Mal wieder die Anhänger und Verehrer von Donna Leon absolut auf ihre Kosten kommen. Kaum hat man die ersten drei Sätze gelesen, ist man wieder ganz in die Stadt in der Lagune eingetaucht. Die Personen, das Ambiente, die Sehnsucht und die Spannung, ja die Heimeligkeit der Familie Brunetti, diesmal etwas einseitiger auf den Commissario fokussiert, alles ist wieder da und alles ist so schön und nachdenklich wie bei allen Fällen zuvor. Und wer das Versäumte endlich nachholt und nun seinen ersten Brunetti liest, dem darf gesagt werden: Achtung Suchtpotential, es ist mit erheblichen Neben- und Nachwirkungen zu rechnen. Einen Brunetti liest man nicht nur so, einem Brunetti bleibt man in der Regel auf ewig treu.
Maximal empfehlenswert
Peter J. König
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